Wie wohnen wir zukünftig zusammen?
AUFBRUCH ZU EINEM KLIMAFREUNDLICHEN LEBENSSTIL (TEIL 2)
Neu aufkommende Formen des Zusammenlebens haben das Potenzial, unsere soziokulturellen Leitbilder aufzufrischen. Erstaunlicherweise leisten sie ganz nebenbei einen wichtigen Beitrag zur Verminderung der CO2 Emissionen im Wohnsektor während sie gleichzeitig das Bedürfnis nach mehr Gemeinschaft befriedigen. Grund genug für uns, einmal genauer hinzusehen...
Im letzten Beitrag [Blog vom 24.01.2022] zeigten wir, dass Energieeffizienz und erneuerbare Energien alleine nicht ausreichen, um die zu hohen Emissionen beim Bauen und Wohnen zu senken. Zusätzlich sind selbstbeschränkende Maßnahmen (Suffizienz) nötig. Das bedeutet indes auch, alte Leitbild wie „Eigenheim, Glück allein“ in die Mottenkiste des 20. Jahrhunderts zu verbannen. Schließlich ist der Flächen- und Energieverbrauch des freistehenden Hauses mit Garten einfach viel zu hoch. Was aber sind moderne Alternativen zu diesem Wohnideal der 1950er-Jahre, das auf die klassische Kleinfamilie zugeschnitten war? Damit beschäftigen wir uns unten und stellen dar was passiert, wenn die Selbstgenügsamkeit in die gemeinschaftlich geteilten vier Wände einkehrt.
Im Fokus stehen dabei die sogenannten „Neuen Wohnformen.“ Cluster-Wohnungen, Co-Housing, Co-Living-Spaces, Mehrgenerationenwohnen sind hier nur einige der häufig genannten Konzepte. In ihrer Gesamtheit repräsentieren die architektonisch-wohnkulturellen Newcomer eine breite Palette von Optionen, wie man enger zusammenrücken kann ohne den Gürtel enger zu schnallen. Sie bieten vielmehr Modelle für ein bezahlbares Zuhause, für gemeinsames Erlernen und Praktizieren von umweltbewussten Verhaltensweisen und sie sind eine Antwort auf den soziographischen Wandel unserer Gesellschaft. Vor allem: sie reflektieren neue Bedürfnisse, die immer lauter artikuliert werden.
Wohngruppen – der noch wenig beachtete Trend
Die Corona-Erfahrungen, rasant steigende Miet- und Immobilienpreise und die galoppierende Klimakrise rütteln eine wachsende Anzahl Menschen auf. Viele wünschen sich inzwischen mehr soziales Miteinander und flexiblen, möglichst bezahlbaren Wohnraum frei von Spekulationsinteressen. Knapp 30 Prozent aller Deutschen können sich laut einer Forsa-Umfrage [hier] von 2021 ein Zuhause in Gemeinschaft - etwa einem Mehrgenerationenprojekt - vorstellen. Der Weg dorthin ist zwar noch kein Mainstream; trotzdem zeigen [hier] schon etwa 3000 gemeinschaftliche Wohnprojekte in Deutschland, wie das funktionieren kann [Audiobeitrag zum alternativen Wohnen]. Vorreiter seit 25 Jahre ist hier Tübingen mit 5-6000 Menschen in 250 Projekte. Besonders beliebt sind Wohnprojekte außerdem in Berlin, bekannt ist [hier] beispielsweise der Möckernkiez. Aber auch München gilt [hier] oder [hier] als Musterstadt für neue Wohnlösungen ebenso wie Hamburg oder Bochum, um nur einige zu nennen. Das Portal der Stiftung Trias, die [hier] auf „Boden, Ökologie und gemeinschaftliches Wohnen“ spezialisiert ist, vermittelt einen Eindruck von der Vielfalt der Szene in ganz Deutschland.
Die Projekte finden sich weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit als Neubau auf der grünen Wiese und auf städtischen Freiflächen, aber auch als Umwandlungen und Sanierungen im Bestandsbau. Sie gründen oder beteiligen sich [hier] an Genossenschaften, reaktivieren alte Fabriken und Bauernhäuser, sie entwickeln Räume der Inklusion und des vielfältigen Miteinanders. Und sie erfinden passende Lösungen für eine veränderte Gesellschaftsstruktur. Lebensgemeinschaften, Patchwork-Familien, Alleinerziehende, Singles, ältere Menschen, aber auch die klassische Papa-Mama-Kinder-Kombo schaffen zusammen neue räumlichen Essembles, in denen Fürsorgenetzwerke entstehen können. Man hilft sich gegenseitig beim Einkauf, bei Reparaturen, der Kinderbetreuung und bietet emotionale Unterstützung in schwierigen Zeiten.
Gemeinsam wohnen als Triebfeder für Klimaschutz und Kostenbegrenzung
Klimaschutz ist nicht immer das wichtigste Motiv für die Gruppenbildung. Interessanterweise kann aber gerade der Wunsch nach mehr Gemeinsamkeit mit suffizienten, CO2-sparsamen architektonischen Lösungen [wie hier] einhergehen. Dies ist dann z.B. der Fall, wenn Wohnungen wie in Mehrgenerationenhäusern nach Bedarf und Lebensphase verkleinert oder vergrößert werden können ohne neu gebaut werden zu müssen. Für Alltagsaufgaben bieten sich flexibel nutzbare Gemeinschaftsflächen an, die die funktions- und privaträumliche Trennung aufheben und den individuell benötigten Platz verringern. Stattdessen entstehen Optionsräume, „Co-Living-Spaces“, die für das Home-Office als Arbeitsort, die Kinderbetreuung oder als Gästewohnung zur Verfügung stehen. Beim Clusterwohnungstyp wiederum handelt es sich um eine Art Luxuswohngemeinschaft, bei der sich mehrere private, abgeschlossene Wohneinheiten rund um geteilte Räumlichkeiten wie etwa der Küche oder den Wohnräumen gruppieren. Zusätzlich zu dieser architektonischen Treibhausgaseinsparung durch Flächenreduzierung regt das Gemeinschaftsleben aber auch zu klimafreundlichen Lebensweisen ein. Teilen statt besitzen, reparieren statt neu kaufen, (sozialer Aus-) Tausch statt Shopping als Freizeitbeschäftigung sind oft die Leitgedanken.
Ein besonders beeindruckendes Beispiel für ein wegweisendes Wohngruppenprojekt stammt aus dem Kronsberg in Hannover. Über dieses haben wir [hier] im Blog bereits berichtet. Die Zeit ist dort bereits reif für eine innovative Form des Zusammenlebens! Unter dem Wertekanon Gleichwertigkeit, Gemeinschaft, Nachhaltigkeit und Vielfalt entsteht jetzt in diesem Projekt ein ökosozialer Mitmachort nach allen Regeln der suffizienten Lebenskunst.
Jede Menge (Beziehungs-)-Arbeit
Es darf bei Wohngruppenprojekten wie in Hannover aber nicht unterschätzt werden, wieviel Arbeit im Kleinen geleistet werden muss, bis dieser interessante Trend tatsächlich [hier] zu einer Alternative für die breite Masse wird. Entwicklungszeiten von fünf Jahren sind die Regel. Oft haben daran Interessierte Menschen ein romantisches Bild vom Zusammenleben, das vor allem bei selbstverwalteten Projekten auf eine harte Probe gestellt wird. Der Knackpunkt dabei ist eindeutig das Soziale Miteinander. Das bestätigt auch die Forschung: „Damit Wohnprojekte lebendige Sozialsysteme (…) werden und bleiben, ist eine kontinuierliche Kultivierung des Gemeinschaftlichen schon in der Planungs- und Bauphase und vor allem während der Wohnphase erforderlich“, heißt es dazu [hier] in einer Studie.
Wer noch nie in mit mehreren anderen zusammengelebt hat, muss sich auf einen intensiven Lernprozess einstellen, wie es beispielsweise der Psychologe und Wohngruppenexperte J. Thönneßen [hier] auf seinem Blog beschreibt. Solche Erfahrungen haben die bereits erwähnte Stiftung Trias inspiriert, in diesem Sommer [hier] erstmals in Deutschland eine spezifische Aus- und Weiterbildung für Wohnprojekteberater aufzusetzen. Die Lehrinhalte setzen sich aus acht Modulen mit den vier Themenschwerpunkten Rechtsformen, Immobilien, Finanzierung und nicht zuletzt der Organisation von Gruppenprozesse zusammen.
Ein Cradle-to-Cradle-Hochhaus für morgen
Was aber ist, wenn man weniger Zeit oder Energie in Wohnen als kollektives Rundumerlebnis investieren möchte? Wenn man trotz knapper Zeitressourcen Lust auf mehr Gemeinschaft in einer ökologisch nachhaltigen Umgebung hat? Vielleicht wäre dann Deutschlands erstes Cradle-to-Cradle-Hochhaus [hier] in der Hamburger Hafencity eine passende Alternative? Das Moringa-Hochhaus ist dort ein Beispiel für eine neue Form von ökologisch anspruchsvoller Bauträgertätigkeit, die klimafreundliche Materialauswahl mit neuer Wohnarchitektur verbindet. In dem geplanten Vorzeigebau sollen, zertifiziert nach dem Cradle-to-Cradle-System [hier], nur Stoffe zum Einsatz kommen, die entweder wiederverwendbar oder kompostierbar sind. Bis 2024 sollen so auf 15.500 qm 3 ressourcenschonende, ineinandergreifende Wohnkomplexe entstehen. Der Projektentwickler Moringa GmbH by Landmarken verzahnt dabei drei Zielgruppen: Block 1 wird auf sechs Geschossen 80 Sozialwohnungen für Singles, Paare und Familien mit integrierter Kita zur Verfügung stellen. Block 2 sieht 153 Appartments vor, die zu 50 CO-Living-Spaces mit Gemeinschaftsflächen (etwa zur Nutzung als CO-Working-Plätze) zusammengeschlossen werden können und sich an alle wenden, die ihr Leben mit anderen teilen möchten. Und schließlich entstehen in dem 12 Geschosse hohen Block C freifinanzierte Wohnungen mit attraktivem Elbblick für diejenigen, die zu ihrem Tesla die passenden vier Wände suchen -was man von letzterem eSportwagen auch immer halten mag....
Trendsetter für die Stadt von Morgen, packen wir’s an.
Das im Entstehen begriffene Eco-Village Hannover als selbstorganisiertes Genossenschaftsprojekt und das Moringahochhaus als attraktives Bauträgermodell stellen oben entgegengesetzte Pole im Feld der innovativen Wohnmöglichkeiten dar. Sie gehören zu den Trendsettern, die alternative Sinnangebote machen und sich nahtlos in aktuelle Urbanitätskonzepte einfügen, wie sie etwa das UBA [hier] in seiner Vision „Stadt von Morgen“ präsentiert. Aber noch ist die Umsetzung jedes gemeinschaftlich organisierten, öko-sozialen Projekts ein Experiment. In manchen Städten, beispielsweise in Aachen, unterstützen Institutionen wie die „Koordinationsstelle Bauen und Wohnen in Gemeinschaft“ [hier] tatkräftig die Bauschaffenden. Andernorts dagegen treffen Interessierte auf behördliches Unverständnis und hohe Hürden beim suffizienz- oder gemeinwohlorientierten Grundstückskauf. Die Lokalpolitik wird in den nächsten Jahren vielerorts aufwachen müssen. Denn die neuen Wohnformen repräsentieren eine unumkehrbare Entwicklung, die nicht nur das Emissionsproblem adressiert, sondern die Notwendigkeit einer grundlegenden Erneuerung im Bau- und Wohnungssektor.
Dafür engagieren sich auch wichtige Schlüsselakteure. So hat etwa Hans-Joachim Schellnhuber, der Director Emeritus des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, im Herbst den praktischen Startschuss für seine Initiative „Bauhaus der Erde“ gegeben. Die Initiative will „konkrete Demonstrations- und Testprojekte für biobasierte Architektur, sozial-ökologischen Stadtumbau und regenerative regionale Wertschöpfungsketten in Deutschland und weltweit auf den Weg bringen.“ Klimafreundliche Gestaltung und Nutzung übersetzt in Architektur als Gesamtkunstwerk ist das Ziel. Die Neuauflage [hier] des innovativ-avantgardistischen Bauhausgedankens der 1930er Jahre wird politisch unterstützt durch das [hier] 2019 von Ursula von der Leyen in Leben gerufenen „New European Bauhaus“. Dieses soll seinerseits eine politische Debatte zur Transformation unserer gebauten Umwelt anstoßen.
Werden sich die neuen Wohnformen zu wirkmächtigen Leitbildern für einen ökologisch-suffizienten Lebensstil entwickeln? Energieberater können hier einen wichtigen Unterstützungsbeitrag leisten. Das entstehende Beschäftigungsfeld stellt eine große Chance dar, übersteigt doch die Nachfrage nach ökologischem Wohnen in Gemeinschaft deutlich das vorhandene Angebot. Allerdings wird niemand umhin kommen sich zu verändern und dazu zu lernen. Leitbilder setzen sich nur dann in der Gesellschaft durch, wenn die Umsetzung machbar erscheint. In Zukunft wird deshalb in der Beratung und Planung zusätzlich zu den bisherigen technisch-ökologischen Themen die Notwendigkeit einer Prozessbegleitung interessierter Baugruppen hinzukommen - und das bedeutet zusätzlich auch eine Fokussierung auf Gemeinschaftsbildungsprozesse und Suffizienzempfehlungen. Es ist zu hoffen, dass die oben erwähnte Fortbildung der Stiftung Trias den Startschuss für viele vergleichbare Initiativen darstellt - damit die suffizienzorientierte Transformation des Wohnens die richtige Schubkraft erhält.
Die Autoren
Marian Bichler und Benjamin Holtz
Literaturempfehlung:
1) Einstieg für Wohngruppeninteressierte:
- Schindler et alii: Ein Wohnprojekt starten. Entwicklungen Freiraum geben. Hrsg: Stiftung Trias, Hattingen 2019. Bestellbar unter https://www.stiftung-trias.de/wissen/publikationen/
2) Umfassende, gut lesbare Studie mit vielen Beispielen über den Trend:
- Dürr et alii: Familien in gemeinschaftlichen Wohnformen. Hrsg: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Bonn 2021. Online-publikation [hier].
Beiträge zur Suffizienz auf dem Atum-Blog:
B. Holtz: "Das Maß der Dinge für eine lebendige Welt": Blogbeitrag vom 18.04.2021
M. Bichler: "Aufbruch in eine neue Genusskultur." Blogbeitrag Suffizienz 1 von 4
M. Bichler: "Weichenstellung für die klimaneutrale Zeitenwende." Blogbeitrag Suffizienz 2 von 4
M. Bichler: "Beispielhaft für ganz Europa: Das ecovillage kronsberg in Hannover." Blogbeitrag Suffizienz 3 von 4
M.Bichler: "Neue Wohnformen braucht das Land." Blogbeitrag Suffizienz 4 von 4
M.Bichler und B.Holtz: "Abschied vom Gestern. Aufbruch zu einem klimafreundlichen Lebensstil (Teil 1)." Beitrag 10.2021 im Gebäudeenergieberater
Übersicht zu Beratungsportalen:
Die Website „Neue Wohnformen“ https://www.neue-wohnformen.de/ gibt eine tabellarische Übersicht über alle neuen Wohnformen (von therapeutischer WG bis Baugruppe) mit u.a. Projektsuche und Dienstleistungsnetzwerk. Damit verbunden ist das Wohnprojekteportal der Stiftung Trias: https://www.wohnprojekte-portal.de/home/
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Die Stiftung Trias ist eine fachlich organisierte Bürgerstiftung, die unter anderem gemeinschaftlich orientiertes Wohnen fördert. Die Website https://www.stiftung-trias.de/home/ hat ein sehr breites Informations-Angebot z.B. hier: https://www.stiftung-trias.de/wissen/publikationen/
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Das „Forum gemeinschaftliches Wohnen“ ist ein überregionaler Verein, der Kommunen und die Wohnungswirtschaft berät und Fachleuten eine Plattform für den Informations- und Erfahrungsaustausch berät. Außerdem ermöglicht das „Forum“ mit seiner Projektbörse eine bundesweite Vernetzung von Wohnprojekt-Interessenten.
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Das soziale Start-Up-Unternehmen „Bring together“ vernetzt Gleichgesinnte auf seiner Plattform
https://www.bring-together.de/de. Außerdem gibt es dort z.B. Kurse oder auch eine Übersicht von öffentlichen Wohnprojekten in Deutschland https://www.bring-together.de/de/gemeinschaft/communities/deutschland
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Das Mietshäusersyndikat https://www.syndikat.org/de/ berät selbstorganisierte Hausprojekte, die sich für das Syndikatsmodell interessieren und hilft u.a. bei der Projektfinanzierung. Ziel ist der gemeinschaftliche Erwerb von Häusern vor allem für (ehemalige) Mieter und Initiativen zur Verhinderung von Spekulation und zur Schaffung langfristig bezahlbaren Wohnraums in Kollektiveigentum
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